"Let it be"
Unbemerkt von ihren Eltern, holen sich Heranwachsende in Internet-Foren Anleitungen zum Selbstmord. Minderjährigen werden tödliche Medikamente angeboten, Fachleute sind alarmiert. Doch deutsche Behörden sehen wenig Anlass zum Handeln.
"Hi Leute!", grüßt am 31. Januar, abends
um halb sechs, ein Jugendlicher namens "Rizzo" ins
Internet-Forum. Einen sieben Meter langen Strick habe er
sich gekauft, prahlt "Rizzo". Es fehle ihm aber eine
"Anleitung, wie man sich richtig aufhängt. Kann mir jemand
die Fallhöhe sagen, dass es ziemlich schnell geht?"
Es kann einer: "Damit es schnell geht, sollte die Fallhöhe
nicht unter drei Meter sein", antwortet "Stephan". Ein
anderer rät: "Abzüglich Knoten sechs Meter, Deine
Körpergröße dazu, etwas Luft unter den Füßen, macht alles
zusammen 15 Meter, grob geschätzt."
So zynisch und menschenverachtend geht es Tag für Tag zu in
den Suizid-Foren des Internet. Vor allem junge Leute
zwischen 13 und 25 Jahren sind dort von Nachmittag bis weit
nach Mitternacht online, sezieren ihre Gemütslage, stellen
Fragen zum Freitod, die alle Besucher der Web-Seiten dann
beantworten können.
Im deutschsprachigen Raum gibt es etwa 30 solcher
Todes-Foren, weltweit sind es einige tausend. Allein in den
vergangenen drei Monaten registrierten Fachleute mehr als
ein Dutzend versuchter und vollendeter Suizide, die über
das Internet befördert, organisiert und angekündigt wurden.
Einer der wenigen deutschen Experten, die den Todestrend im
Netz bislang wahr- und ernst genommen haben, ist der
Psychiater Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut für
Psychiatrie in München. Er sieht "eine bedrohliche
Entwicklung, auf die man reagieren muss. Noch haben wir
keine Suizid-Epidemie... Bronisch fungiert als Sprecher der
Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens. Bronisch beklagt, dass es in der Bundesrepublik -
im Gegensatz zu anderen Ländern - kein flächendeckendes
Suizid-Verhütungsprogramm gebe.
Zum ersten bekannt gewordenen, übers Netz verabredeten
Todes-Rendezvous kam es im Februar vorigen Jahres. Daniel
V., 24, ein norwegischer Computer-Freak, und die
Österreicherin Eva D., 17, hatten sich via Internet zu
einem Treffen in Oslo verabredet. Von dort aus reisten sie
nach Südnorwegen und sprangen zusammen von einer
Felsenklippe in den Abgrund.
Seitdem verzeichnen die Internet-Seiten, die aussehen wie
schwarze Bretter, immer mehr Klicks - und täglich werden es mehr... Fest
eingeschriebene Diskussionsteilnehmer, im Jargon
"Stamm-Poster" genannt, debattieren dort unter Pseudonymen über den einfachsten Weg, sich
das Leben zu nehmen. Dazu kommen noch Tausende von
Gelegenheitsbesuchern.
Auf den Web-Seiten vieler Foren bekommen die Jugendlichen
auch genaue Beschaffungstipps....
Andrea H. aus Hannover war 14 Jahre alt, als sie beim
Surfen im Internet irgendwann auf ein Selbstmord-Forum
stieß und sich von den cool daherkommenden Sprüchen der
anderen Chatter anstecken ließ: "Mich hat das sofort
fasziniert." Suizid-Gedanken hatte sie damals nicht, nur
die alterstypischen Zweifel am Sinn des Lebens. Erst
betrachtete sie das Plaudern im Netz als Spiel; es machte
ihr Spaß, mit anderen über ihren Alltagsfrust zu sprechen.
Dann aber wurde das Chatten und Posten ernst, zu einer
Sucht.
"Ich war zwar bei meinen Eltern in der Wohnung, lebte und
wohnte in Wahrheit aber im Forum." Andrea glaubte, anderen
Suizid-Gefährdeten helfen zu können, bekam aber selbst
zunehmend Probleme. Statt in der realen Welt Freunde fürs
Leben zu suchen, ließ sie sich immer mehr auf die Freunde
zum Sterben in der virtuellen Welt ein....
Die Jugendlichen bleiben sich ... weitestgehend selbst
überlassen. Viele wollen den Absprung, schaffen ihn aber
nicht allein. Auf ihrer persönlichen Web-Seite schreibt die
19-jährige "Lil" aus Freiburg im Breisgau, sie werde
inzwischen aggressiv, wenn die Leute im Forum "so viel über
Suizid-Methoden schwadronieren". Auch "Lil" möchte raus aus
dem Todesspiel - seit sie bei Markus am Grab stand.
Die Frage für sie ist nur: Wie?"
Soweit Auszüge aus dem Artikel des 'Spiegel' 9/2001