Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 4, Kapitel 176


Des Menschen Einswerden mit Gott. Simons Bekenntnis seiner fleischlichen Schwächen.

01] (Simon:) ”Ich sehe nun, dass Du, o Herr, Dich den Menschen ganz als Gott offenbarst und nirgends einen Rückhalt oder irgendein Geheimnis machst gleich den alten Propheten, die Dich den Menschen stets nur unter einer dicksten Verschleierung offenbarten und kaum den Saum Deines Kleides den Sterblichen zeigten. Sie gründeten wohl eine Religion und eine Kirche; aber was war das für eine Religion, was für eine Kirche? Die Religion war ein kaum sichtbarer Stern, aus irgendeiner endlosen Raumestiefe einen allerspärlichsten Hoffnungsstrahl zur mit dickster Nacht umhüllten Erde herabspendend, und die Kirche ein Gebäude aus harten Steinen, ein Tempel, um den lauter Irrgänge und finstere Vorhöfe standen, in welche die Menschen gelangen konnten, aber nie in des Tempels Innerstes, wo alle die großen Lebensgeheimnisse enthüllt auf goldenen Tischen lagen.

02] Hier aber wird nicht nur des Tempels Innerstes allen Menschen als vollkommen zugänglich eröffnet, sondern Gott, als der ewig Unzugängliche, offenbart Sich Selbst persönlich ganz, wie Er war, ist, und sein wird ewig, den Menschen. Daher ist es aber andernteils auch notwendig, Gott nicht etwa nur teilweise, sondern ganz in sich leiblich, seelisch und geistig aufzunehmen durch die ausschließlich alleinige Liebe zu Ihm. Ein solches Entgegenkommen, wie das des Schöpfers zum Geschöpfe, also auch das des Geschöpfes zum Schöpfer, muß ja am Ende notwendig eine volle Identifizierung zwischen dem schöpferischen Ursein und dem geschöpflichen Nachsein zur Folge haben.

03] Gott wird eins mit uns, und wir werden eins mit Ihm ohne die geringste Beschränkung unserer persönlichen Individualität und der vollkommensten Willensfreiheit! Denn ohne die vollendetste Identifizierung des Geschöpfes mit dem Schöpfer ist ewig nie an eine vollendetste Willensfreiheit zu denken, weil nur des Schöpfers Wille in der vollendetsten Unbeschränktheit sich befinden kann und des Geschöpfes Wille nur dann, wenn er vollkommen eins mit dem Willen des Schöpfers geworden ist.

04] Wollen wir das, was der Herr will, so ist unser Wollen ein vollkommen freies, weil des Herrn Wille auch ein vollkommenst freier ist; wollen wir aber das nicht oder nur zum Teil, so sind wir die elendsten Sklaven unserer eigenen unendlichen Blindheit. Nur in Gott können wir vollkommen frei werden; außer Gott gibt es nichts als Gericht und Tod!

05] Herr, Du siehst, dass ich mich nicht scheue zu reden; und ich glaube, diesmal auch wieder den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben! Du aber gib nun Deinen allmächtigen Segen dazu, auf dass dies herrlichste Weizenkorn, das Du, o heiligster Vater, Selbst aus Deinem ewigen Himmel hierher auf diese leider sehr magere Erde verpflanzet hast, im Erdreiche unserer noch blöden Herzen tausendfältige Früchte tragen möge! O heiligster Vater, werde eins mit uns, Deinen Geschöpfen, mit Deinen noch armseligen Kinderchen, auf dass wir dereinst, Dir ähnlich, auch eins mit Dir werden können!“ - Hier bricht Simon ganz ergriffen in Weinen aus.

06] Ich aber erhebe Mich nun und sage zu Simon: ”Komme zu Mir her, du Mein geliebter Bruder, und umarme in Mir nicht mehr deinen Schöpfer, sondern deinen Bruder, auf dass du der erste seist, der mit Mir eins geworden ist!“

07] Sagt Simon ganz zerknirscht: ”O Du zu Heiliger! Dieser Gnade ist der sündige Simon ewig nicht wert!“ Darauf weint er abermals. Dafür aber gehe Ich zu ihm und drücke ihn mit abermaligem Brudergruße an Mein Herz.

08] Nach einer Weile, als sich Simon aus seinem Ergriffensein erholt und Ich auf sein Gemüt auch beruhigend eingewirkt hatte, sagte Simon: ”Mein Herr und mein Gott! Was tat ich denn, dass Du mir nun auf einmal gar so gnädig und barmherzig bist? Sieh, ich bin ein sündhafter Mensch; denn mein Fleisch ist sehr locker. Die schönen und üppigen Jungfrauen machen auf mich einen mächtigen Eindruck, und es drängen sich von Zeit zu Zeit stets unzüchtige Gedanken in mir auf. Und gar oft willige ich mit einer Art Lust und Freude in diese Gedanken, wennschon nicht in der Tat wegen Mangel an Gelegenheit, so aber doch im Gemüte, das in solchen Brunststadien bei mir sehr bejahend sich verhält.

09] Es gibt dann darauf bei mir wieder auch ganz helle Momente und vernünftige Anschauungen und Betrachtungen über diesen Punkt; aber was nützt das alles? Sehe ich dann gleich darauf wieder eine schöne Maid, so sind alle die hellen Momente, alle die vernünftigen Anschauungen und Betrachtungen in einem Augenblicke wieder verflogen, und der alte Sündenbock steht, mit allem Unzuchtssinne gewappnet, wieder auf seinem Flecke. Ich tue dabei und darauf freilich wohl nichts; aber dieses Nichtstun ist dennoch kein wahres Nichtstun, sondern bloß ein durch die schlechte Gelegenheit verhindertes Tun. Die Furcht vor zeitlicher Strafe und Schande hält einen davon ab, aber lange nicht der eigene freie Wille, der bei solchen Gelegenheiten nur sehr viel Begehrendes in sich hat und bei guter Gelegenheit sicher keine Verneinung an den Tag legen würde! Ich kenne mein lumpiges Fleisch leider nur zu gut und bin somit ein sündiger Mensch und so einer großen Gnade von Dir aus nie wert.“



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