Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 8


Kapitelinhalt 101. Kapitel: Der Kranichzug.

01] In einer Entfernung von etwa tausend Schritten von dem Städtchen Bethanien befand sich ein freier Hügel, der auch zum Besitztum des Lazarus gehörte. Auf diesen gingen wir zu und bestiegen ihn auch bald und leicht, da er eben nicht gar zu hoch war; aber da er ganz frei dastand, so gewährte er eine herrliche Rundschau, und man sah von ihm aus auch ganz gut bis nach Jerusalem.

02] Als wir uns ganz auf der Höhe befanden, da ersahen wir von Nordwesten her einen starken Zug Kraniche in der Luft kommen, und Lazarus meinte, daß dies eine seltene Erscheinung sei, diese Vögel so frühmorgens weiterziehen zu sehen; denn gewöhnlich ziehen sie erst um den Mittag herum, am meisten aber in den Nachmittagsstunden. Es müßte das etwas ganz Besonderes bedeuten; denn diese Vögel haben einen gar scharfen Instinkt und fühlen schon tagelang ein ihnen drohendes Ungemach in der Natur, wo sie sich aufhalten ihres Unterhaltes wegen, machen sich zur Reise bereit, und auf ein gegebenes Zeichen ihres Führers erheben sie sich auf einmal und ziehen einem andern sicheren Orte zu.

03] Sagte Ich: »Da hast du die Natur dieser Vögel wahrlich recht wohl beobachtet, und es ist das diesen Vögeln gegeben; aber hier zeigen sie mitunter auch etwas anderes an. Würdest du in der alttreuen Kunde der Entsprechungen zwischen der Geister- und Sinnenwelt wohlbewandert sein, was du schon noch werden wirst, so würdest du die eigentliche Bedeutung dieses morgendlichen Kranichfluges auch ganz verstehen; so aber verstehst du nur das, was du durch die Erfahrung der Natur dieser Vögel entnommen hast.

04] Gebet aber nun wohl acht darauf, was diese sonst äußerst vorsichtigen Vögel machen werden, so sie gerade über uns hinwegfliegen werden!«

05] Hierauf ward von uns der Flug dieser Vögel scharf ins Auge gefaßt, wie er sich in der schönsten Ordnung uns nahte. Es waren an hundert Vögel in der langen Reihe, und genau sieben bildeten die kurze Winkelreihe, die allzeit aus den alten, kräftigen und gewisserart erfahrenen männlichen Führern besteht.

06] Als der Kranichzug über unseren Häuptern schwebte, mindestens bei vierhundert Mannshöhen hoch, da machte er halt, die Reihe löste sich auf, und die hundertsieben Kraniche fingen an, in Kreisen zu fliegen, und senkten sich niederer und niederer und das so lange, bis sie kaum sieben Mannshöhen hoch über uns herumkreisten und uns durch ihren eben nicht sehr wohlklingenden Gesang gewisserart die Ehre bezeigten. Dieses dauerte ein paar Minuten lang, und die Vögel senkten sich dann unter den Hügel in die Ebene hinab, auf der sich ein ziemlich großer Teich befand, in welchem Lazarus fürs Haus die Fische zog, die freilich nur zu den gewöhnlichen gehörten. In diesem Teiche nahmen die Vögel Wasser zu sich, soviel sie dessen zu ihrem Weiterflug bedurften. Als sichtlich alle damit versorgt waren, da gaben die sieben Ältesten das wohlerkennbare Zeichen zum Aufbruch, und alle Vögel erhoben sich wie mit einem Schlag in die Luft, machten aber vor ihrem gänzlichen Abflug noch einmal etliche Kreisflüge um den Hügel, auf dem wir uns befanden. Darauf aber hoben sie sich, in Kreisen fliegend, schnell zur ursprünglichen Höhe, stellten daselbst sogleich die frühere Linienordnung her und zogen dann gen Nordost; erst in einer ziemlichen Ferne veränderten sie ihre nordöstliche Fluglinie in eine südöstliche und kamen uns außer Sicht.

07] Hier sagte abermals Lazarus: »Herr und Meister, wenn man das mit der rechten Aufmerksamkeit betrachtet, so ist es auch ein vollkommenes Wunder!«

08] Sagte Ich: »Wie möchtest du Mir das wohl erklären bloß so aus deinem Gemüte?«

09] Sagte Lazarus: »Herr und Meister! Wie es sich ganz natürlich zeigte, so war es auch schon in dem bloß natürlichen Verhalten ein Wunder; denn diese Vögel sind gar sehr klug und scheinen gar wohl zu wissen oder stark zu fühlen, daß wir Menschen, und namentlich wir Juden, eben nicht zu ihren Freunden zu zählen sind, und so ist es auch noch nie erhört worden, daß eben diese Vögel sich einer Anzahl Menschen je so freundlich genaht haben.

10] Bei den Griechen, die diesen Vögeln eine Art von göttlicher Verehrung bezeugten, soll das eben nicht zu selten der Fall gewesen sein, daß diese Vögel sich ihnen in einer vielleicht ebenso freundlichen Weise genaht haben, wie das nun hier der Fall war; aber, wie gesagt, bei uns Juden ist das noch nie der Fall gewesen, wenigstens meines Wissens und meiner Erfahrung nach nicht. Und so halte ich das für ein wahres Wunder! Denn diese klugen Vögel haben es gemerkt, wer sich nun hier auf diesem Hügel befindet - nämlich auch ihr Herr und Schöpfer -, und das bewog sie, sich von der großen Flughöhe bis in die nächste Nähe dieses Hügels herabzulassen, um hier gewisserart nach ihrem Instinkt und nach ihrer Empfindung ihren Schöpfer und Herrn zu begrüßen und zu beehren.

11] Mein Teich hat zudem auch noch niemals die Ehre gehabt, daß sich Kraniche, die nur ein reinstes Seewasser zu ihrem Trank nehmen, von seinem etwas trüben Wasser Labung genommen hätten; sie mußten also wohl geahnt haben, daß Du mit Deinem heiligen und allmächtigen Willen geheim das Wasser des Teiches gesegnet und für sie gekräftigt hast. Sie empfanden das sicher wohl, daher erhoben sie sich nach eingenommenem Wasser und umkreisten abermals jubelnd diesen Hügel. Dir gewisserart den Dank für die Wassersegnung darbringend, und erhoben sich erst nach Dir dargebrachtem Danke jubelnd zu ihrer ersten Flughöhe und setzten, also von Dir gestärkt, ihren wohlgeordneten Flug weiter fort.

12] Daß sie von hier nicht gleich in der südöstlichen Richtung ihren Flug fortsetzten, davon scheint wohl mehr ihr scharfer, nahe an unsere Vernunft grenzender Instinkt der Grund gewesen zu sein. Denn in solcher Richtung wären sie dem Toten Meere etwa zu nahe gekommen, dessen weithin reichende böse Ausdünstung ihnen leicht einen Schaden hätte zufügen können. Sie nahmen darum ganz weise, könnte man sagen, anfangs die nordöstliche Richtung, und als sie außer aller Gefahr, die ihnen etwa in der größeren Nähe des bösen Meeres gedroht hätte, sich befanden, dann erst schlugen sie jene Richtung ein, nach der sie sicher gefahrlos an den Ort ihrer Bestimmung gelangen konnten.

13] Das ist nun nach meiner ganz natürlichen Beobachtung und Ansicht sicher ein wahres Wunder vor den Augen eines jeden Menschen, der von Jugend an gewohnt war, alle Erscheinungen in der Naturwelt mit schärferen Blicken und auch mit einem tätigeren Verstande zu beobachten, als das die gewöhnlichen Weltweisen zu tun pflegen und eigentlich zu tun imstande sind. - Habe ich recht geredet, o Herr und Meister?«

14] Sagte Ich: »Ja, ja, du Mein lieber Freund und Bruder, du hast diese Sache sehr wohl und gut aufgefaßt; denn also verhielt sich diese Sache auch, bloß von einem natürlichen Standpunkte aus betrachtet. Aber hinter dem steckt freilich eine noch um gar unglaubbar tiefere Weisheit, die aber nur der erkennen kann, der sich in einem inwendigen geistigen Schauen und Fühlen befindet und den Tod seiner Materie insoweit wohl besiegt hat, inwieweit er in die Seele noch hinüberragte und sie ängstigte.

15] Damit ihr alle hier seienden wenigen aber auch davon absonderlich zum voraus einige Winke habt, so will Ich sie euch geben, bevor uns noch die andern finden werden; und so vernehmt Mich denn!«



Home  |    Index Band 8  |   Werke Lorbers