Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


22. Kapitel: Wißbegier der jungen Jüdin in Bezug auf Jesus.

01] Hier erst fing die junge schöne Jüdin an, den Agrikola ernster zu fragen, wer Ich und der wunderbare Jüngling denn so ganz eigentlich seien, und warum Mich alle stets mit "Herr und Meister" anredeten. Das sähe sie schon ein, daß Ich ein Grundweiser sei; aber sie wüßte dennoch nicht, woher Ich wäre, und wer Ich sei.

02] Da antwortete ihr Agrikola und sagte: »Meine schöne Tochter! Sei du nur auf alles recht aufmerksam, samt deinen Eltern und deinem Bruder, und du wirst schon dahinterkommen, wer jener herrliche Mann ist, und woher Er gekommen ist, wie desgleichen auch dieser Jüngling!«

03] Sagte die Jüdin: »Wisst denn ihr selbst das auch noch nicht ganz und gar sicher, wer jener herrliche Mann so ganz eigentlich ist? So ihr es aber wisset, - warum sagt ihr es mir denn nicht?«

04] Sagte Agrikola: »O meine liebste Tochter, euer weiser König Salomo sagte einst: "Alles in dieser Welt hat seine Zeit, und zwischen Zeit und Zeit soll der Mensch Geduld haben; denn solange die Traube nicht reif ist, soll man sie nicht vom Weinstocke nehmen!" Und siehe, also wirst auch du noch nicht völlig reif sein, das Nähere über jenen herrlichen Mann zu erfahren; wenn du aber reif werden wirst, dann wird dir auch schon das Nähere kundgemacht werden. Aber wie gesagt, gib du nur auf alles genau acht, was jener herrliche Mann reden und tun wird, und es wird dir dann dein Herz sagen, wer jener herrliche Mann ist! - Hast du mich nun wohl verstanden?«

05] Sagte die Jüdin: »Ja, ja, ich habe dich ganz verstanden! Der arme Mensch ist noch allzeit auf die Geduld zum Besserwerden hingehalten; der reiche und von aller Welt angesehene Mensch aber kann sich für eine zu lange Geduld schon irgendein anderes Auskunftsmittel verschaffen. Ja, ja, das ist mir schon ziemlich lange her bekannt! Nun, nun, ich werde deinen gütigen Rat, hoher Herr, wohl ganz befolgen; ob ich aber dabei etwas gewinnen werde, das ist eine ganz andere Frage!«

06] Hier bat der Vater der Tochter den Agrikola sehr um Vergebung und sagte: »Herr, Herr, vergib es dem armen Kinde; denn es ist manchmal bei aller seiner Gutherzigkeit ein wenig zu wißbegierig und wird, so man ihm dann und wann irgend aus guten Gründen etwas vorenthält, leicht unwillig. Aber wenn dann der oft eitle Neugiersturm vorüber ist, so wird es darauf gleich wieder voll Geduld und Sanftmut und fügt sich dann ganz gern in alles noch so Bittere. Darum wolle du, guter und hoher Herr, diesem unserem Kinde diese kleine Ausartung ein wenig zugute halten!«

07] Sagte Agrikola: »Ah, was fällt euch da bei?! Dieser eurer lieben Tochter Rede gefiel mir ja eben nur ganz besonders gut, weil sie ganz offen und unbefangen die Wahrheit redete. Ich bleibe von jetzt an noch mehr euer Freund, als ich es zuvor war. Darum könnt ihr in dieser Hinsicht schon ganz beruhigt sein. Aber die Tochter soll in ihrer Weise nur weiterreden, und wir werden dadurch doch noch aufs ganz Wahre kommen.«

08] Damit waren die armen Alten ganz zufriedengestellt, und die Tochter durfte nun reden, wie ihr die Zunge und der Verstand gewachsen waren.

09] Sie wandte sich nun gleich wieder an den Römer und sagte zu ihm (die Jüdin): »O lieber, großer Herr und Freund, du bist wohl ein gar sehr guter Mensch, und alle deine Gefährten scheinen es auch zu sein; aber du kannst in deinem großen Weltglück es doch nie ganz fühlen, was die Armut in ihrer oft ganz hilflosen und großen Not fühlt! Wenn man sich als ein junges und von der Gottesnatur nicht vernachlässigtes Mädchen nicht in alles das begibt, was die Großen und Reichen wünschen, so ist man dann schon so gut wie ganz verloren. Kein Mensch schaut da mehr auf unsereins, man wird beschimpft und für ein eitel dummes und stolzes Wesen gehalten, und kommt man dann in irgendeiner Not zu jemand um Hilfe, so wird man zur Tür hinausgewiesen und darf sich dann nicht mehr vor einer solchen Tür sehen lassen. Das ist und bleibt für unsereins denn doch immer etwas im hohen Grade Unangenehmes und benimmt einem am Ende alles Vertrauen selbst zu der besseren Menschheit. Denn Menschen sind wir alle und sind behaftet mit allerlei Schwächen und Unvollkommenheiten. Ist das wahr oder nicht?«

10] Sagte Agrikola: »Du hast zwar ganz wahr und recht gesprochen; aber es gibt dennoch noch etwas, dessen du bei deiner Armut und Notschilderung vergessen hast! Sieh, wen Gott liebhat, den prüft er zuvor ganz gehörig durch, bevor Er ihm vollauf hilft! Und das scheint denn Gott der Herr mit euch getan zu haben. Als aber eure Not aufs höchste gestiegen war, da kam zu euch denn auch Seine Hilfe, und nun ist euch erst wahrhaft geholfen. Denn ich habe euch im Namen Gottes, eures und meines Herrn, zugesagt und werde mein euch gegebenes Wort auch halten, und das rein aus Liebe und Dankbarkeit zu eurem wahren Gott und ja nicht etwa wegen irgendeiner besonderen Liebe und Neigung zu dir, dieweil du eine sehr schöne Jüdin bist. Denn meine Liebe zu Gott ist um sehr vieles größer, als ich sie je zu allen mir vorgekommenen Schönheiten und Herrlichkeiten der Welt empfunden habe. Also wegen deiner Versorgtheit darfst du von nun an in gar keine Bangigkeit mehr geraten; daß dir aber eine nähere Bekanntschaft mit jenem Herrlichen noch eine Weile vorenthalten wird, das hat einen ganz weisen Grund, und wir sind darum nicht irgend hart gegen dich, so wir dir nicht gleich alles sagen, was wir alle als ganz sicher und vollkommenst wahr von Ihm wissen.

11] Daß hinter Ihm etwas ganz Außerordentliches steckt, das kannst du dir schon vorstellen; doch worin das Außerordentliche besteht, das wirst du bald und leicht zum größten Teil von selbst herausfinden, wenn du nur, wie ich dir geraten habe, recht aufmerksam bist, und zwar auf alles, was Er reden und tun wird. Ich habe dich aber ja schon gleich anfangs da auf diese Gefäße auf diesem unserem Tische aufmerksam gemacht, wie Er sie bloß durch Seinen Willen gleichsam erschaffen hat. Dann warst Du nun auch Zeugin, wie Er während der Erklärung Seiner Wundertaten jene beiden Goldbecher aus der Luft heraus ins Dasein rief, die nun noch vor Ihm stehen und jenen beiden völlig ähnlich sind, die der Hauswirt Lazarus hereinbrachte, indem er erzählte, wie sie jener Jüngling, der nun an jenem kleinen Tische mit dem Lazarus ißt und trinkt, auf die gleiche Weise wunderbar aus der Luft ins Dasein rief also, wie hierinnen jener herrliche Mann dasselbe tat. Wenn du solches alles gehört und gesehen hast, so sollte dir, wie auch deinen Eltern und deinem Bruder, schon so ein wenig mehr Licht über jenen herrlichen Mann kommen, der so überweise reden und so außerordentliche Taten zustande bringen kann.«

12] Sagte die Jüdin: »Ja, ja, da hast du schon ganz recht und wahr geredet; aber eben darin liegt für uns vier ja der eigentliche Haken, über den wir nicht gar so leichten Fußes und Sinnes hinwegzuspringen imstande sind; denn für einen noch so großen Propheten spricht er zu klar und weise und tut zu unerhört Außerordentliches. Ihr Römer habt es da leicht, weil ihr solch einen außerordentlichen Menschen gleich für einen Gott ansehen, annehmen und ihn als solchen verehren und anbeten könnt; aber das geht bei uns Juden nicht, weil wir nur an einen alleinigen Gott glauben, den niemand sehen und leben kann. Die Weisheit dieses herrlichen Mannes übersteigt freilich wohl alle bisherigen Begriffe der Menschen und ebenso auch seine Taten, und er muß darum sehr viel des reingöttlichen Geistes in sich haben; aber darum können wir Juden ihn doch nicht als einen Gott annehmen! - Was sagst denn nun du dazu?«



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