Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 6, Kapitel 35


Judas Ischariot im Hause Kisjonahs.

01] Alle waren schon der ganz frohen Meinung, daß dieser Jünger nicht mehr wiederkehren werde, weil er sich den ganzen halben Winter hindurch gar nirgends hatte sehen lassen, das heißt bei jemand Bekanntem. Aber siehe da, auf einmal überraschte er uns gerade während eines recht fröhlichen Mittagsmahles. Er grüßte uns alle sehr freundlich, und Kisjonah lud ihn sogleich zu Tische, was der Jünger mit allem Danke und aller Freundlichkeit auch sogleich annahm.

02] Kisjonah, ein äußerst freundlicher und aufrichtiger Mann gegen jeden Menschen, fragte denn auch unseren Jünger, was er diese Zeit hindurch zu Hause gemacht habe, und wie es ihm und seiner Familie ergangen sei.

03] Da fing der Jünger an, ein langes und breites über die Vorteile zu erzählen, die er in der kurzen Zeit für sein Haus durch seinen besonderen Kunstfleiß errungen hätte, wie er für diese und jene großen Herren sehr viel ausgezeichnetes Geschirr für Küche und Tisch hätte zu machen bekommen, und wie er dafür überaus gut bezahlt worden wäre und sein Haus und seine Familie wenigstens auf einige Jahre bestens versorgt habe. Und dergleichen uns Unglaubliche Grenzende erzählte er noch mehreres.

04] Da brach den andern Jüngern die Geduld, und sogar unser Petrus, der sonst nicht leicht zum Reden kam, sagte endlich zu ihm: ”Höre, wenn von all dem nur die Hälfte wahr ist - was ich sehr bezweifle -, so bist du nun ja ohnehin schon nahe so wohlhabend wie hier der Freund Kisjonah, und ich sehe gar nicht ein, wie du dich nun hast entschließen können, wieder zu uns zu kommen und etwa gar noch weiter mit uns zu ziehen! Wäre es denn für dich nicht weit klüger, auch jetzt daheim zu bleiben und dich durch deinen Kunstfleiß noch mehr zu bereichern?“

05] Sagte Judas Ischariot: ”Das verstehst du nicht! Ich bin zwar gerne fleißig bei der Arbeit, so ich einmal dabei bin; aber ich kann nicht umhin, so mich bei allem Fleiße die Erinnerung an all das Gehörte und Gesehene wieder von der Arbeit treibt und zu euch führt, um da noch mehr zu hören und zu sehen. Denn gar so geistlos, als für was und wie ihr Brüder mich haltet, bin ich nicht! Und wäre ich es, so befände ich mich sicher nicht unter euch! Aber mich gelüstete schon sehr nach euch, und natürlich am meisten nach unserem Herrn, und so mußte ich gehen, wie durch eine unsichtbare Macht gezogen, und bin nun da. So ich euch jedoch unangenehm bin und euch irgend im Wege stehe, so dürfet ihr es ja nur sagen und besonders der Herr, und ich gehe wieder dahin, woher ich gekommen bin, und wir werden deshalb auch noch gute Freunde verbleiben!“

06] Sagte Petrus: ”O nein, das werden wir nie tun, und du kannst bei uns sein, wie du warst, und wie du willst; was ich dir verweise, besteht nur in dem, daß du ohne alle Rücksichtnahme auf des Herrn oft erwiesenste Allwissenheit uns allen über deine großen Gewinste so ganz keck und frech ins Gesicht lügen kannst, während du es vom Herrn so gut wie wir wissen solltest, daß über unsere Lippen nie ein unwahres Wort kommen soll. So dir das nicht unbekannt sein kann, warum denn dann solche Lügen aus deinem Munde, da du doch uns gleich vom Herrn zu einem Apostel bist erwählt worden?“

07] Sagte Judas Ischariot: ”Wie kannst du mir denn beweisen, daß ich gelogen habe?“

08] Sagte Petrus: ”Ganz leicht! Denn fürs erste hat der Herr durch Seine Gnade mein Inneres derart erleuchtet, daß ich es genau weiß und wissen kann, ob da jemand lügt oder die Wahrheit spricht; zudem wird, was ich nun soeben durch die Gnade des Herrn innewerde, gar bald ein anderer noch handgreiflicherer Beweis hier eintreten, von dem alle, die dich nun angehört haben, es nur zu klar erfahren werden, wie sehr du uns alle nun angelogen hast, was von dir wahrlich nicht löblich war! Wir haben zwar durch deine ganz leere Großtuerei weder einen Schaden noch einen Nutzen; aber bedenke du es selbst, ob so etwas sich unter uns geziemt, und ganz besonders in Gegenwart des Herrn, an den du gleich uns allen zu glauben und zu hoffen vorgabst!“

09] Hier ward unser Jünger sehr verlegen und wußte nicht, was er nun dem Petrus erwidern sollte, da er sich sehr getroffen fühlte.

10] Es dauerte aber gar nicht lange, da kamen einige ins Haus des Kisjonah und baten um Almosen, und Kisjonah ließ sie nach seiner Art ins Zimmer treten. Als sie ins Zimmer traten, waren es vier schon ziemlich erwachsene Kinder, in ganz dürftigste Lumpen gehüllt. Als Judas Ischariot derer ansichtig ward, da wandte er sein Gesicht ab, um von den vier Eingetretenen nicht erkannt zu werden; denn es waren dies seine älteren vier Kinder, eine Maid und drei Jungen.

11] Kisjonah aber befragte sie beiseits, wer und woher sie wären, wer ihr Vater wäre, und wie er heiße.

12] Die Kinder aber sagten alles und gaben ihrem Vater gar kein absonderlich gutes Zeugnis.

13] Kisjonah aber bemerkte, daß er vernommen habe, daß sich eben ihr Vater in dem halben Winter durch seinen Kunstfleiß gar soviel Geldes erworben hätte.

14] Aber die Kinder verneinten das und sagten: ”Der Vater hatte wohl etwas für einen Markt vorbereitet, - als er aber auf den Markt kam, da entstand eine große Rauferei zwischen jüdischen und griechischen Handelsleuten, und dem Vater wurden alle seine Töpfe und Geschirre zerbrochen, und wir alle sind dann als pure Bettler heimgekehrt, worauf dann der Vater sehr traurig ward und uns mit den Worten verließ: "Kinder, ich kann für euch nun nichts mehr tun! Geht zu barmherzigen Menschen hin, und ihr werdet schon noch Unterstützung finden! Ich aber werde zu dem wunderbaren Meister, von dem ich vieles erzählt habe, gehen; vielleicht bewege ich Ihn, daß Er wenigstens euch und eurer armen Mutter hilft, so schon mir nicht mehr zu helfen sein sollte!" Dann ging er traurig fort, und wir gingen auch, wie wir hier sind, ein Almosen für uns, für die Mutter und für unsere noch jüngeren Geschwister zu suchen, haben aber bis jetzt noch wenig ausgerichtet. Darum bitten wir dich, daß du dich unser erbarmen möchtest!“

15] Hierauf sagte Kisjonah: ”Wie lange ist es denn schon, seit euch euer Vater verließ?“

16] Da sagten die Kinder, es werde das schon acht Tage her sein, daß sie den Vater nicht mehr gesehen hatten.

17] Hierauf führte Kisjonah die Kinder in ein anderes Gemach, ließ ihnen andere Kleider geben und sie reinigen und gab ihnen dann zu essen und zu trinken. Als die vier also vorderhand versorgt waren, da gaben sie sichtbarlich zu erkennen, daß es sie jammere des Elends ihres Vaters, dessentwegen auch daheim die arme Mutter sehr traurig wäre, da nun niemand wisse, wohin er gekommen sei.

18] Da vertröstete sie Kisjonah, daß sie sich darum nicht sorgen sollten, da ihr Vater auch bei ihm vorderhand ganz gut aufgehoben sei und sie ihn bald sehen würden.

19] Da wurden die Kinder überfroh und blieben ganz ruhig in ihrem Gemach.

20] Kisjonah aber kam heraus, ging zu Judas Ischariot hin und sagte: ”Freund, weit entfernt, als wollte ich dir, einem erwählten Jünger des Herrn, deiner Großrederei wegen irgendeinen Vorwurf machen, - aber da du mich hoffentlich ebensogut kennst, wie mich weit und breit alles, was arm ist, kennt, warum kamst du denn nicht alsbald zu mir, und warum gestandest du mir nicht deine sehr bedauernswerte Lage? Siehe, deine Kinder sind da weit aufrichtiger als du und sind höchst besorgt um dich, und du bogst bei ihrem Eintritte dein Angesicht von ihnen weg, um von ihnen, die dich trauernd suchen, ja nicht erkannt zu werden! Ich wenigstens finde das denn doch ein wenig sonderbar von dir! Was sagst du selbst nun zu dem allem?“

21] Sagte Judas Ischariot, tief aufseufzend: ”Ach, Freund, ich wollte durch meine freilich sehr unzeitigen Großredereien nur mein ganz gebrochenes Herz betäuben! Aber es hat mir das schlechte Früchte getragen; denn die Strafe folgte meiner Bosheit gegen mich selbst alsogleich auf der Ferse wie eine giftige Natter nach, und nun stehe ich da enthüllt zuschanden vor aller Augen. Geh und lasse mich zu meinen Kindern gehen, sie trösten und bei ihnen meinen Schmerz ausweinen!“

22] Da sagte Ich: ”Jetzt noch nicht! Esse und trinke nun, und in der Folge lüge nicht mehr, sonst wird dir noch Ärgeres widerfahren!“

23] Da blieb Judas Ischariot und fing wieder an zu essen und zu trinken, und alle sprachen mit ihm nun weiter ganz freundlich, und Kisjonah versprach ihm, für die Armen zu sorgen, weil sie an seinem Unglücke ganz unschuldig seien, wohl aber mehr oder weniger er als Vater an dem ihrigen.

24] So war diese Episode ganz ruhig und gut beigelegt worden, und sie ist hier nur darum wiedergegeben worden, um den Jünger wieder etwas näher zu bezeichnen, wessen Geistes Kind er war.



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