Jakob Lorber: 'Himmelsgaben', Band 1


07] Nun, was meint ihr denn, nachdem ihr solche Erzählung vernommen habt - hat der Erzähler seinen Freund angelogen oder nicht? - Ja, sage Ich, er hat ihn angelogen, und das weidlich - und wieder hat der Erzähler seinem Freunde dennoch eine allerreinste Wahrheit gesagt.

08] Aber nun fragt sich, wie kann denn eine Sache zu gleicher Zeit Lüge und Wahrheit sein? - Das bringt freilich ein natürlicher Menschenverstand so wenig überzeugend heraus, wie daß schwarz weiß und weiß schwarz ist. - Jedoch nicht also ist es bei Mir! - Denn es kann eine Sache, mit geistigen Augen betrachtet, recht gut schwarz und weiß zu gleicher Zeit und auf derselben Stelle sein. - Und so wird sich auch zeigen, wird dieser vorbenannte, lügenhafte Erzähler dessenungeachtet die Wahrheit geredet hat.

09] Dieser Mensch hatte nämlich an einem Tage, da er unter dem kühlenden Schatten eines Baumes einschlief, einen so lebhaften Traum, in welchem er das Erzählte so leiblich und lebhaft gesehen hat, daß er unmöglich umhin konnte, bei sich selbst anders zu gedenken, als er habe wirklich dieses alles also gesehen.

10] Denn obschon er wieder unter dem nämlichen Baume erwachte, unter welchem er sich einige Stunden vorher zur Ruhe gelegt hatte, so war aber doch sein Traum so beschaffen, daß es ihm vorkam, er sei alsbald unter dem Baume aufgewacht, habe dann die Stelle verlassen und sei zufolge eines weiteren Spazierganges in die vorbeschriebene Gegend gekommen. Und als er daselbst (in seinem Traum) alles früher Erwähnte gesehen und erfahren hatte, kehrte er alsbald zurück, kam gerade zum selben Baume wieder, legte sich wieder, schlief ermüdet auf eine kurze Zeit ein und erwachte dann wirklich unter demselben Baume, unter dessen Schatten er sich einige Stunden früher (in Wirklichkeit) wohlbehalten begeben hatte.

11] Nun seht, in der Natürlichkeit ist das (von dem Träumer Erzählte) zwar eine Lüge, da im ganzen Lande keine Gegend (dieser Art) und kein Drache ausfindig gemacht werden kann. Allein es ist gerade nicht nötig, daß, so irgend etwas in der Natur nicht vorgefunden wird, es deswegen nicht (geistig bestehend) da wäre.

12] Und so verhält es sich überhaupt mit einer jeden geistigen Anschauung! Nehmt nur einen Blinden und erzählt ihm von diesem und jenem Gegenstande, den ihr seht, daß er da ist! Ist für den Blinden die Erzählung etwa eine Lüge, da er den Gegenstand eurer Erzählung nicht selbst sehen kann? - Und so können viele Dinge vorhanden und wahr sein, wenn sie auch nirgends aufgefunden werden - da neben der naturmäßigen Welt, ja sogar in derselben eine noch bei weitem größere Geisterwelt besteht. - Wer möchte z.B. wohl behaupten, daß die Hölle eine Lüge sei, da sie doch nur aus lauter Lüge besteht? Oder wer möchte behaupten, es gebe darum keinen Himmel, weil er dem Auge des Forschers nicht ersichtlich ist?



Home  |    Inhaltsverzeichnis 'Himmelsgaben' Band 1  |   Werke Lorbers