Jakob Lorber: 'Die geistige Sonne' (Band 1)


Kapitelinhalt 28. Kapitel: Die Täler der Reichen, Gelehrten, Vernunft- und Verstandesmenschen

(Am 2. Januar 1843, von 4 1/2 bis 6 Uhr Abends.)

Originaltext 1. Auflage 1870 durch Project True-blue Jakob Lorber

Text nach 6. Auflage 1975 Lorber-Verlag

01] Sehet! da sind wir schon wieder auf dem ersten Standpunkte. Es grauet euch wohl ein wenig, euch da hinein zu begeben; allein so viel Raum hat die Schlucht noch immerwährend zwischen den schroffen Felswänden, daß wir uns recht bequem werden über den etwas rissigen Weg ziehen können. Auf dem Wege werdet ihr gar viele enge Thalschluchten links und rechts entdecken; zur linken oder mittägigen Seite haben diese Thäler ganz dieselbe Bedeutung, wie wir sie gesehen haben im ersten Thale links, allda die Reichen der Erde wohnen; der Unterschied besteht nur darin, daß die Bewohner dieser tiefer liegenden Thäler an Wohlthaten stets ärmer sind, obschon sie stets desto reicher waren auf der Erde an irdischem Vermögen.

02] In den Thälern rechts ist die Wohnung für allerlei Gelehrte, Vernunft- und Verstandesmenschen; je in einem tieferen und mehr im Hintergrunde gelegenen Thale Solche wohnen, desto mehr waren ihre Wißthümlichkeiten aus der Erde vom Herrn entfernt. - Und da ihr Solches wisset, so können wir unsern Weg auch mit gutem Erfolge beginnen, und uns in jene Gegend begeben, allda ihr überaus Wichtiges sollt kennen lernen; - und so denn gehen wir!

03] Ihr fraget, woher wohl diese Wässer kommen, die da aus diesen Thälern von beiden Seiten her in diese enge Schlucht schießen, und sich durch diese als ein reißender Gebirgsbach hinaus ergießen in des großen Meeres Bucht? - Die Wässer bedeuten die Wißthümlichkeiten und daraus entsprungenen Nutzwirkungen, welche solche Menschen vermöge ihres Verstandes und Vernunftlichtes auf dem Wege der Erfahrungen von der Naturmäßigkeit der Dinge entnommen haben. Die von der rechten Hand herkommenden sind, wie ihr sehet, viel trüber; Solches bezeichnet das viele Falsche, welches in all' den gelehrten Wißthümlichkeiten vorhanden ist, und die etwas weniger trüben von der linken Seite her bezeichnen, daß die Reichen der Welt bei ihrem geringen wissenschaftlichen Reichthume aber dennoch besser zu rechnen verstanden, denn die eigentlichen nackten Gelehrten. - Daß die Wässer hier in dieser Schlucht zusammenstoßen, bedeutet, daß das Vermögen der Wissenschaft und das Vermögen an den Schätzen der Welt sich allzeit vereinigen, und am Ende auf Eins hinausgehen; denn der Gelehrte sucht die Wissenschaft, um durch dieselbe weltschatzreich zu werden, der Weltschatzreiche aber sucht die Wissenschaft, um mittelst derselben sein Vermögen noch mehr zu erhöhen. Aus diesem Grunde erschaut ihr auch, daß die Wässer von der Linken her, beiweitem nicht so stark brausen, denn die von der Rechten, und Solches besagt auch noch dazu, daß der Weltschatzreiche sich stets auf eine politische Weise unter den Gelehrten zu stecken weiß, um von dessen Gelehrsamkeit Eines oder das Andere für seinen speculativen Bedarf zu gewinnen. - Solches wüßten wir jetzt auch, und so können wir wieder unsere Reise fortsetzen.

04] Sehet, dort ziemlich weit noch im Hintergrund steigt eine gerade hohe Steinwand auf; allda hat unser Thalwerk links und rechts auch ein Ende. Diese Wand öffnet sich zuweilen, und bildet einen ziemlich geräumigen Sprung. Wenn man zu der Zeit hinzu kommt, so kann man da weiter dringen; wenn man aber nicht einen solchen Zeitpunkt trifft, so ist da kein Durchgang möglich. Ihr saget: auch nicht auf die Weise, wie wir uns in der nördlichen Gegend auf die Berge gehoben haben? - Ich sage euch: Hier auch auf diese Weise nicht, und das zwar aus dem Grunde, weil ihr noch Irdisches an euch habet. Wir werden aber ohnehin den Zeitpunkt antreffen, da sich die Wand öffnen wird, und da hinter der Wand sich also gleich eine überaus große Ebene ausbreitet, so werden wir bis zur Zeit des Sich-wieder-Schließens der Wand leichtlich durch die ziemlich weite Spalte kommen. - Und sehet, hier sind wir schon bei der Wand; geduldet euch nur ein wenig, und alsbald soll sie sich öffnen. Ich sage nun: Thue dich auf! - Und sehet, schon trennt sich die mächtige Wand; nun ist die Spalte groß genug, also nur hurtig durchgesetzt! Wir haben die Spalte glücklich passirt, und nun seht euch um, wie die Wand schon wieder fest geschlossen ist.

05] Aber jetzt seht vorwärts in die Gegend in der wir uns befinden; wie gefällt sie euch? - Ihr saget: was ist das für eine Frage? - Wie solle uns diese Gegend gefallen, in der es also finster ist, daß wir offenbar weiter greifen, als sehen; wir müssen uns bloß an dich anhalten, sonst wären wir offenbar verloren, denn wir sehen ja nicht einmal den Boden, den wir betreten, und wissen daher nicht, auf was wir gehen, sind es Steine, Sand, Unflath oder Gewässer? Denn, wie gesagt, wir sehen hier nichts, nicht einmal dich und uns selbst.

06] Ja, meine lieben Freunde, hier ist es denn einmal also. Ihr fragt mich, ob auch in dieser Gegend allenfalls lebende Wesen existiren? Ich aber sage euch: es ist nicht leichtlich irgend eine Gegend so bevölkert wie diese; denn hier kann man im Ernste sagen: In diesem Markte der Finsterniß wimmelt es von Menschen.

07] Ihr möchtet wohl ein wenig Licht haben, damit wir doch örtlicher Weise Etwas auszunehmen vermöchten? - Ich aber sage euch: Es würde uns nicht gut zu Statten kommen, so wir uns hier eines Lichtes bedieneten; denn wir würden sodann alsbald von den Bewohnern dieser Gegend nahe also umringt sein, wie ein Würmchen, wenn es auf einen Ameisenhaufen fällt. Allein geduldet euch nur ein wenig; es wird sich unser Auge gar bald also erweitern, daß wir einer Nachteule gleich auch in dieser Finsterniß Etwas zu schauen bekommen werden; und so denn bewegen wir uns noch ein wenig vorwärts. - Nun, seht ihr schon Etwas? - Ihr saget: Ganz schwach fangen wir wohl an wahrzunehmen, daß der Boden, auf dem wir stehen, zumeist lauter Sand ist; und da vor uns scheint sich Etwas zu bewegen.

08] Ja, ja, ihr habt Recht; gehen wir daher nur darauf los! und ihr sollt sobald mehr in's Klare kommen, was sich da bewegt. - Nun sehet, das Bewegende bewegt sich auf uns zu. Seht, es ist eine zusammen gebückte, armseligst aussehende Menschengestalt. - Wollt ihr sie fragen, wer sie ist? Ihr getrauet euch nicht; so will ich solches thun. - Und so höret denn; ich will die Gestalt anreden.

09] Was machst du hier, armseliges Wesen? Woher bist du? - Die Gestalt spricht: Ich bin schon bei drei Erdjahren in dieser Gegend, und laufe herum als ein wildes Thier, und finde nichts, damit ich meinen großen Hunger stillen könnte. Warum ich nach meinem Ableben auf der Erde in solch eine miserable Gegend habe kommen müssen, weiß ich durchaus nicht. Ich war auf der Erde ein großer Herr, und hatte ein großes Amt über mich. Dieses Amt habe ich stets als ein rechtlicher und treuer Beamter verwaltet; ich ließ mich durch gar nichts bestechen, sondern handelte strenge nach dem Gesetze, und erfüllte somit meine Pflicht zur allseitigen Achtung, wurde sogar von meinem Monarchen geachtet und ausgezeichnet. Ich that aus meinem amtlich verdienten Einkommen freiwillig so manches Gute, und lebte in jeder Hinslcht als ein nachahmungswürdiges Beispiel. - Als ich aber dann das Zeitliche verließ, da kam ich in diese schauerliche Gegend, in der ich schon, wie gesagt, drei Jahre lang herum irre: und nirgends ist da ein Ausweg zu finden.

10] Und ich, euer Führer, frage ihn weiter: Mein guter Freund, Solches mag ja alles sein; hast du aber auch bei all' deiner Amtirung je auf Christum, den Herrn, gedacht und geglaubt? - Hast du je aus Liebe zu ihm Etwas gethan, und hast du wohl alle noch so gemeinen Menschen als deine Brüder betrachtet? Sage mir: wie steht es da? - Der Armselige spricht: Wie kann ein gebildeter Mann auf so einen alten Weiber-Christus glauben? Dessen ungeachtet aber habe ich, um Niemanden ein politisches Aergerniß zu geben, alle christlichen Thorheiten mitgemacht; und wer könnte wohl so thöricht sein, und verlangen von einem Manne, der ein hohes Staatsamt bekleidet, daß er die rohen Gassenschlingel für seine Brüder betrachten sollte? und aus Liebe zum alten Weiber-Christus Etwas zu thun, da müßte man doch vorerst im Ernste also närrisch werden, auf einen solchen Christus zu glauben, dann erst sehen, ob man aus einer gewissen Liebe zu Ihm Etwas thun könnte? - Ich glaubte aber dessen ungeachtet auf einen Gott und dachte oft bei mir selbst: Wenn dieser Gott gerecht ist, was er doch offenbar sein muß, so muß er einem gerechten Manne, wie ich einer war, falls nach dem Tode es ein Leben giebt, auch die volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. - Daß es nach dem Tode ein Leben giebt, Solches erfahre ich drei schauerliche Jahre schon; denn so lange dürfte es wohl sein, daß ich hier gleich einem wilden Thiere herum irre. Aber leider muß ich in diesem Zustande erfahren, daß es keinen Gott giebt; denn wäre irgend ein Gott, so müßte Er mich so gut ansehen, wie mich mein Monarch angesehen hat; da aber sicher Alles nur ein Werk des blinden Zufalls ist, so bin ich auch wieder in diesen blinden Zufall zurück gekommen, und muß nun erwarten, was dieser wieder aus mir machen wird. Habt ihr aber Etwas für den Magen, so gebet mir was zu essen; denn ich bin übermäßig hungrig, und habe keine Nahrung außer ein zufällig angetroffenes Moospflänzchen.

11] Und ich, euer Führer, spreche zu ihm: Höre, Freund! es giebt einen Gott, der gerecht ist, und dieser Gott ist kein anderer, als dein alter Weiber-Christus! - Solches sei Dir ein Gnadenstrahl, auf daß du wissest, an Wen du dich zu wenden hast, wenn es dir noch schlechter gehen sollte, denn jetzt.

12] Siehe, Alles was du gethan hast, wenn es auch an und für sich noch so gerecht war, so hast du alles Solches lediglich aus deiner Eigenliebe gethan; denn deine Liebe war dein rechtliches Ansehen, und darnach das allseitige Wohlgefallen und hohe Schätzung der Welt; daher hast du auch nichts mitgebracht, als deine eigene Liebe, welche seit der Zeit kein Licht hat, da ihr das Licht der Welt genommen ward. Das Licht des Geistes und seine Gerechtigkeit aber ist Christus! - Wende dich in deinem Herzen an Ihn, so wird dir nach dem gerechten Maße deiner Wendung Licht und Brod werden; und nun verlasse uns!

13] Sehet, wie er nun nachdenkend dahin schleicht; und merket ihr, wie über ihm das schwarze Gewölk eine leichte Grauhelle bekommt? - das rührt daher, weil er nun angefangen hat, über Christum nachzudenken. Doch gehen wir weiter, und es werden sich uns beiweitem interessantere Fälle darbieten.

01] Seht! da sind wir schon wieder auf dem ersten Standpunkte. Es graut euch wohl ein wenig, euch da hineinzubegeben; allein so viel Raum hat die Schlucht noch immerwährend zwischen schroffen Felswänden, daß wir recht bequem über den etwas riffigen Weg werden ziehen können. Auf dem Wege dorthin werdet ihr viele enge Talschluchten links und rechts entdecken. Zur linken oder mittägigen Seite haben diese Täler ganz dieselbe Bedeutung, wie wir sie gesehen haben im ersten Tale links, allda die Reichen der Erde wohnen. Der Unterschied besteht nur darin, daß die Bewohner dieser tiefer liegenden Täler an Wohltaten stets ärmer sind, obschon sie desto reicher waren auf der Erde an irdischem Vermögen.


02] In den Tälern rechts ist die Wohnung für allerlei Gelehrte Vernunft- und Verstandesmenschen. In einem je tieferen und mehr im Hintergrunde gelegenen Tale solche wohnen, desto mehr waren ihre Wißtümlichkeiten auf der Erde vom Herrn entfernt. Und da ihr solches wißt, so können wir unsern Weg auch mit gutem Erfolge beginnen und uns in jene Gegend begeben, allda ihr überaus Wichtiges sollt kennen lernen. Und so denn gehen wir!


03] Ihr fragt, woher wohl diese Wasser kommen, die aus diesen Tälern von beiden Seiten her in diese enge Schlucht schießen und sich durch diese als ein reißender Gebirgsbach hinaus ergießen in des großen Meeres Bucht? Diese Wasser bedeuten die Wißtümlichkeiten und daraus entsprungenen Nutzwirkungen, welche solche Menschen vermöge ihres Verstandes und Vernunftlichtes auf dem Wege der Erfahrungen von der Naturmäßigkeit der Dinge entnommen haben. Die von der rechten Hand herkommenden sind, wie ihr seht, viel trüber. Solches bezeichnet das viele Falsche, welches in all den gelehrten Wißtümlichkeiten vorhanden ist, und die etwas weniger trüben von der linken Seite her bezeichnen, daß die Reichen der Welt bei ihrem geringen wissenschaftlichen Reichtume aber dennoch besser zu rechnen verstanden denn die eigentlichen nackten Gelehrten. Daß die Wasser hier in dieser Schlucht zusammenstoßen, bedeutet, daß das Vermögen der Wissenschaft und das Vermögen an den Schätzen der Welt sich allzeit vereinigen und am Ende auf eins hinausgehen. Denn der Gelehrte sucht die Wissenschaft, um durch sie weltschatzreich zu werden, der Weltschatzreiche aber sucht die Wissenschaft, um mittels derselben sein Vermögen noch mehr zu erhöhen. Aus diesem Grunde erschaut ihr auch, daß die Wasser von der Linken her bei weitem nicht so stark brausen als die von der Rechten. Solches besagt auch noch, daß der Weltschatzreiche sich stets auf eine politische Weise unter den Gelehrten zu stecken weiß, um von dessen Gelehrsamkeit eines oder das andere für seinen spekulativen Bedarf zu gewinnen. - Solches wüßten wir jetzt auch, und so können wir wieder unsere Reise fortsetzen.


04] Seht, dort noch ziemlich weit im Hintergrunde steigt eine gerade, hohe Steinwand auf. Da hat unser Talwerk links und rechts auch ein Ende. Zuweilen öffnet sich diese Wand und bildet einen geräumigen Sprung. Wenn man zu der Zeit hinzukommt, so kann man da weiterdringen; wenn man aber einen solchen Zeitpunkt nicht trifft, so ist da kein Durchgang möglich. - Ihr fragt: Auch nicht auf diese Weise, wie wir uns in der nördlichen Gegend auf die Berge gehoben haben? - Ich sage euch: Hier auch auf diese Weise nicht, und zwar aus dem Grunde, weil ihr noch Irdisches an euch habt. Wir werden aber ohnehin den Zeitpunkt antreffen, wenn sich die Wand öffnen wird. Und da hinter der Wand sich sogleich eine überaus große Ebene ausbreitet, so werden wir bis zur Zeit des Sichwiederschließens der Wand leichtlich durch die ziemlich weite Spalte kommen. Und seht, hier sind wir schon bei der Wand. Geduldet euch nur ein wenig, und alsbald soll sie sich öffnen. Ich sage nun: Tue dich auf! - Und schon trennt sich die mächtige Wand; nun ist die Spalte groß genug, also nur hurtig durchgesetzt! Wir haben die Spalte glücklich passiert, und nun seht euch um, wie die Wand schon wieder fest geschossen ist.

05] Aber jetzt seht vorwärts in die Gegend, in der wir uns befinden; wie gefällt sie euch? Ihr sagt: Was ist das für eine Frage? Wie soll uns diese Gegend gefallen, in der es so finster ist, daß wir offenbar weiter greifen als sehen. Wir müssen uns bloß an dich anhalten, sonst wären wir offenbar verloren, denn wir sehen ja nicht einmal den Boden, den wir betreten, und wissen daher nicht, auf was wir gehen, sind es Steine, Sand, Unflat oder Gewässer. Denn, wie gesagt, wir sehen hier nichts, nicht einmal dich und uns selbst.

06] Ja, meine lieben Freunde, hier ist es denn einmal so. Ihr fragt mich, ob auch in dieser Gegend allenfalls lebende Wesen existieren? Ich aber sage euch: Es ist nicht leichtlich irgendeine Gegend so bevölkert wie diese; denn hier kann man im Ernste sagen: In diesem Markte der Finsternis wimmelt es von Menschen.

07] Ihr möchtet wohl ein wenig Licht haben, damit wir doch örtlicher Weise etwas auszunehmen vermöchten? Ich aber sage euch: Es würde uns nicht gut zustatten kommen, so wir uns hier eines Lichtes bedienten, denn wir würden sodann alsbald von den Bewohnern dieser Gegend nahe also umringt sein wie ein Würmchen, wenn es auf einen Ameisenhaufen fällt. Allein geduldet euch nur ein wenig; es wird sich unser Auge gar bald so erweitern, daß wir, einer Nachteule gleich, auch in dieser Finsternis etwas zu schauen bekommen werden; und so denn bewegen wir uns noch ein wenig vorwärts. Nun, seht ihr schon etwas? Ihr sagt: Ganz schwach fangen wir wohl an, wahrzunehmen, daß der Boden, auf dem wir stehen, zumeist lauter Sand ist; und da vor uns scheint sich etwas zu bewegen.

08] Ja, ihr habt recht; gehen wir daher nur darauf zu und ihr sollt sobald mehr ins Klare kommen, was sich da bewegt. Nun seht, das sich Bewegende bewegt sich auf uns zu. Seht, es ist eine zusammengebückte, armseligst aussehende Menschengestalt. Wollt ihr sie fragen, wer sie ist? Ihr getraut euch nicht, so will ich solches tun. Und so hört denn; ich will die Gestalt anreden.

09] Was machst du hier, armseliges Wesen? Woher bist du? Die Gestalt spricht: Ich bin schon bei drei Erdjahren in dieser Gegend und laufe umher als ein wildes Tier und finde nichts, damit ich meinen großen Hunger stillen könnte. Warum ich nach meinem Ableben auf der Erde in solch eine miserable Gegend habe kommen müssen, weiß ich durchaus nicht. Ich war auf der Erde ein großer Herr und hatte ein großes Amt inne. Dieses Amt habe ich stets als ein rechtlicher und treuer Beamter verwaltet; ich ließ mich durch gar nichts bestechen, sondern handelte strenge nach dem Gesetze und erfüllte somit meine Pflicht zur allseitigen Achtung, wurde sogar von meinem Monarchen geachtet und ausgezeichnet. Ich tat aus meinem amtlich verdienten Einkommen freiwillig so manches Gute und lebte in jeder Hinsicht als ein nachahmungswürdiges Beispiel. Als ich aber dann das Zeitliche verließ, da kam ich in diese schauerliche Gegend, in der ich schon, wie gesagt, bei drei Jahre lang umherirre, und nirgends ist ein Ausweg zu finden.

10] Und ich, euer Führer, frage ihn weiter: Mein guter Freund, solches mag ja alles sein; hast du aber auch bei all deiner Amtierung je an Christum, den Herrn, gedacht und geglaubt? Hast du je aus Liebe zu Ihm etwas getan? Und hast du wohl alle noch so gemeinen Menschen als deine Brüder betrachtet? Sage mir, wie steht es da? - Der Armselige spricht: Wie kann ein gebildeter Mann an so einen Alten-Weiber-Christus glauben? Dessen ungeachtet aber habe ich, um niemandem ein politisches Ärgernis zu geben, alle christlichen Torheiten mitgemacht. Wer könnte wohl so töricht sein und von einem Manne, der ein hohes Staatsamt bekleidet, verlangen, daß er die rohen Gassenschlingel für seine Brüder betrachten sollte? Und aus Liebe zum Alten-Weiber-Christus etwas zu tun, da müßte man doch erst im Ernste also närrisch werden, an einen solchen Christus zu glauben, dann erst sehen, ob man aus einer gewissen Liebe zu Ihm etwas tun könnte. Ich glaubte aber dessen ungeachtet an einen Gott und dachte oft bei mir selbst: Wenn dieser Gott gerecht ist, was er doch offenbar sein muß, so muß er einem gerechten Manne, wie ich einer bin, falls es nach dem Tode ein Leben gibt, auch die volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Daß es nach dem Tode ein Leben gibt, solches erfahre ich drei schauerliche Jahre schon; denn so lange dürfte es wohl sein, daß ich hier gleich einem wilden Tiere umherirre. Aber leider muß ich in diesem Zustande erfahren, daß es keinen Gott gibt; denn wäre irgendein Gott, so müßte er mich so gut ansehen, wie mich mein Monarch angesehen hat. Da aber sicher alles nur ein Werk des blinden Zufalls ist, so bin ich auch wieder in diesen blinden Zufall zurückgekommen und muß nun erwarten, was dieser wieder aus mir machen wird. Habt ihr aber etwas für den Magen, so gebt mir etwas zu essen; denn ich bin übermäßig hungrig und habe keine Nahrung außer ein zufällig angetroffenes Moospflänzchen.

11] Und ich, euer Führer, spreche zu ihm: Höre, Freund! Es gibt einen Gott, der gerecht ist, und dieser Gott ist kein anderer als dein Alter-Weiber-Christus! Solches sei dir ein Gnadenstrahl, auf daß du wissest, an wen du dich zu wenden hast, wenn es dir noch schlechter gehen sollte denn jetzt.

12] Siehe, was du getan hast, wenn es auch an und für sich noch so gerecht war, so hast du solches alles lediglich aus deiner Eigenliebe getan; denn deine Liebe war dein rechtliches Ansehen und darnach das allseitige Wohlgefallen und die hohe Schätzung der Welt. Daher hast du auch nichts mitgebracht als deine eigene Liebe, welche seit der Zeit kein Licht hat, da ihr das Licht der Welt genommen ward. Das Licht des Geistes und seine Gerechtigkeit aber ist Christus! Wende dich in deinem Herzen an Ihn, so wird dir - nach dem gerechten Maße deiner Wendung - Licht und Brot werden; und nun verlasse uns!

13] Seht, wie er nun nachdenkend dahinschleicht; und merkt ihr, wie über ihm das schwarze Gewölk eine leichte Grauhelle bekommt? Das rührt daher, weil er nun angefangen hat, über Christum nachzudenken. Doch gehen wir weiter, und es werden sich uns noch bei weitem interessantere Fälle darbieten.

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