Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 9


Kapitelinhalt 177. Kapitel: Gegenfragen des Arztes an Raphael.

01] Sagte darauf der Arzt voll Staunens über Raphaels Weisheit: »Hochherrlicher Freund, du hast in mir nun nahezu alle meine alten Zweifel getötet, und ich fange an, in meiner Seele lichter und auch lebendiger und mutvoller zu werden, wofür ich dir aus dem Innersten meines Herzens danke: und dir auch die Zeit meines ganzen Lebens dankbar verbleiben werde; aber eine Frage in Hinsicht des von dir mir als unmöglich erklärten Nichtseins eines Wesens muß ich dir denn doch noch stellen. Kannst du mir auch diese auf eine ebenso faßliche Art erklären in deiner Antwort, so sind dann alle meine alten Zweifel in bezug auf das für uns kurzsichtige Menschen noch immer denkbare Nichtsein vollends zunichte.

02] Die Frage aber lautet: Wo und was waren denn vor der Werdung durch den allmächtigen Willen Gottes alle nun daseienden Wesen? Wo und was war denn ich vor der Zeugung und Geburt? War ich schon irgendwo, und war ich auch ein Etwas? Warum blieb in meiner Seele davon keine Rückerinnerung?

03] Ohne eine solche aber betrachte ich nach meinem Verstande ein jedes, künftig zu erwartende Dasein ebenso wie ein Vorsein, verglichen mit meinem gegenwärtigen mir klar bewußten Dasein, als ein Nichtdasein; denn bin ich nicht mehr das, was ich war, und wird mir bei einem künftigen Sein alle Rückerinnerung auf ein wie immer geartetes Vorsein gänzlich benommen, dann ist jedes Dasein für mich soviel wie gar kein Dasein.

04] So zum Exempel - wie einige unserer vielen Anthropologen der Annahme sind - kann meine nun meinen Leib bewohnende Seele in einem Hirsch oder auch in einem andern Tiere gesteckt haben, alles dessen ich mich aber nicht im geringsten erinnern kann. Da ich aber von solch einem wie immer gearteten Vordaseinszustande auch nicht die allerleiseste Rückerinnerung in diesem meinem nunmaligen Dasein besitze, so ist bei mir ein solches mögliches Vordasein ein rechtes Nichtsein oder, kurz und gut noch anders geurteilt: Der ich nun bin, der war ich noch nie jemals zuvor, und so denn war ich auch nicht.

05] Und werde ich in einem künftigen Dasein wieder ganz etwas anderes sein, als ich nun bin, oder wird mir auch alle Erinnerung an dieses Dasein benommen werden, da werde ich auch nicht mehr der sein, der ich nun bin, und somit abermals nicht sein! Denn was nützen einer Kette viele tausend zusammenhängen sollende Glieder, die aber niemals in einen ineinander sich unterstützenden Zusammenhang gebracht werden? Solange sie nicht in einen ineinandergreifenden Zusammenhang gebracht werden, ist kein vorderes Glied für sein nächst nachfolgendes da; so aber das der offenbare Fall ist, dann ist das Dasein der Kette auch ein nichtiges und das eines jeden Gliedes in bezug zum andern Gliede, mit dem es in keinem Verbande steht, ganz desgleichen.

06] Siehe, du hochherrlicher Freund, in dieser Frage steckt für den auf dieser Erde armselig im vollen Lebensbewußtsein dahinlebenden, oft hell denkenden und dabei von der Furcht vor einem stets schmerzvollen baldigen Tode gepeinigten Menschen vieles von einer überaus großen Wichtigkeit. Und ich habe dir diese Frage ja nicht im geringsten etwa in der Absicht gegeben, um durch sie deine große Weisheit auf irgendeine harte Probe zu stellen, sondern lediglich nur in der Absicht, um durch deine alles durchsehende Weisheit selbst ins klare zu kommen. Hochherrlicher Freund, wolle du nun reden!«!



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