Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 9


Kapitelinhalt 78. Kapitel: Die geistige Finsternis des Schriftgelehrten.

01] Als der Schriftgelehrte dieses von unserem bekehrten Pharisäer vernommen hatte, da ward er zwar dem Außen nach unwillig; aber innerlich fing er doch an nachzudenken und sagte nach einer Weile: »Glücklich der, dem ein offenes Herz gegeben ist; mir ist es bis jetzt noch nicht gegeben worden! Ich habe die Schrift wohl studiert und suchte die Wahrheit, was kann nun ich darum, daß ich sie nicht finden konnte? Was nützte mir, so ich las: "Gott hat mit Abraham, Isaak, Jakob und noch mit vielen andern so und so geredet und hat Sich durch Moses und durch die andern Propheten den Menschen geoffenbart."? Warum hat Er denn mit mir und vielen andern meinesgleichen nicht geredet? Bin ich denn weniger Mensch, als es die waren, mit denen Gott geredet und Sich ihnen geoffenbart hat?

02] Erst jetzt ist abermals ein Mensch unter uns aufgestanden, der uns von neuem wieder zeigt, daß die Schrift keine pure von herrschsüchtigen Menschen erfundene und erdichtete Fabel ist, und daß es einen Gott gibt, dem alle Himmel und alle Mächte und Kräfte der Natur untertan sind. Und so ist es auch nun an der Zeit, zu denken und zu forschen, wie und wodurch bewogen Gott nun wieder einen Menschen erweckt hat, der uns durch Taten und Worte zeigt, daß die Schrift Wahrheit und keine Fabel ist.

03] Ich bin Mensch geworden nicht durch meinen Willen und nicht durch meine Kraft, sondern durch einen unerforschlichen Willen und durch dessen ebenso unerforschliche Kraft und Macht. Kann ich denn dafür, wenn mich diese Kraft und Macht nicht auch also leitete, daß ich an ihrem Dasein nie hätte zweifeln können? Laß mich nun darum denken, auf daß ich in mir auf den Weg komme, auf dem die alte Wahrheit von neuem wohlerkennbar werde; dann erst rede du mit mir!«

04] Darauf sagte der bekehrte Pharisäer: »Wie groß muß denn die Herzens- und auch Verstandesblindheit bei einem Menschen sein, der bei solchen Erscheinungen und besonders bei solchen Lehren noch denken und alles genau erwägen will, ob und wie Gott bewogen werden konnte, in dieser Zeit von Seinem allmächtigen Dasein den Menschen dieser Erde wieder einmal ein Zeichen zu geben, und ob das Zeichen auch ein vollgültig wahres sei. O Herr und Meister voll rein göttlicher Kraft, sei auch den Blinden und Verstockten gnädig und barmherzig!«

05] Sagte Ich: »Freund, lasse du das; denn es hat auf dieser Welt alles seine Zeit! In der Seele deines Gefährten steckt noch zu viel Gold und Silber dieser Welt, und da kann das Reich Gottes nicht so leicht Platz greifen wie bei Menschen, deren Seelen nicht von dem Mammon dieser Welt verhärtet und blind geworden sind. Der schiebt die Schuld auf Gott, daß Er ihn vernachlässigt habe, bedenkt aber nicht, daß auch er gar manche und sehr bedeutungsvolle Mahnungen von Gott aus erhalten hat, die ihm zu einer großen Leuchte für seine Seele hätten werden können, wenn sie nicht schon von Kindheit an mit aller Gold- und Silbergier wäre angefüllt worden.

06] Er war damals schon im Tempel, als das offenbare Wunder mit dem Hohenpriester Zacharias geschah, den sie, weil er die großen Mißbräuche und Betrügereien der herrschsüchtigen Pharisäer und ihrer getreuen Anhänger zu rügen und abzuschaffen anfing, zwischen dem Altare und dem Allerheiligsten erwürgt haben. Er war auch im Tempel, als Simeon und die alte Anna lebten, und hat ihre Worte gehört; er war auch noch im Tempel, als Ich als ein zwölfjähriger Knabe die unverkennbarsten Zeichen von dem Geiste gab, der in Mir wohnt, und er kannte Johannes, den Bußprediger in der Wüste, der ein Sohn des Zacharias und der alten, frommen Elisabeth war.

07] Aber er erkannte vor lauter Gold und Silber das Licht aus den Himmeln nicht, obschon es Tausende geradewegs mit Händen haben greifen können. Er dachte wohl recht viel in seinem Gehirne nach, aber was nützt der Seele, deren Herz mit lauter Mammon verhärtet und verfinstert ist, ein solches Denken, das da gleicht einem flüchtigen Irrlichte, das wohl gleich einem Blitz die Nacht auf einen Augenblick erleuchtet, aber gleich darauf eine viel ärgere Finsternis zur Folge hat, als sie ehedem den Boden der Erde deckte?

08] Wahrlich aber sage Ich: So aber ein solches Verstandeslicht im Menschen schon die purste Finsternis ist, wie groß und stark muß dann erst die eigentliche Nacht des Herzens und der Seele selbst sein! Darum laß du diesen Schriftgelehrten mit seinem Irrlichte nur das Reich Gottes suchen; je länger er es also suchen wird, desto weniger wird er es finden! So er sein Herz und dadurch auch seine Seele nicht völlig von dem Mammon frei macht, so lange auch wird er ins Gottesreich nicht eingehen.

09] Seine Rede gleicht nur der eines Blinden, der auch teils Gott die Schuld gibt, daß er blind ist, und nicht begreift, wie da die andern Menschen sehen können, da doch er nichts sieht. Doch bei einem Leibesblinden ist solch eine Rede zu entschuldigen, wenn er sich nicht selbst mutwillig geblendet hat; aber bei einem Seelenblinden ist solch eine Rede nicht zu entschuldigen, indem er lange gleich vielen andern hätte sehend werden können, so er die ihm wohlbekannten Mittel dazu treulich gebraucht hätte. - Doch lassen wir nun das; morgen ist auch noch Zeit, über die Mittel zur Erlangung des inneren Lichtes zu reden. Die vier Stunden der noch übrigen Nachtzeit aber wollen wir der Ruhe unseres Leibes widmen!«

10] Es fragte nun schleunigst der Wirt, ob Ich in ein eigenes Schlafgemach Mich begeben wolle.

11] Sagte Ich: »Wir bleiben hier am Tische; denn Meine Jünger schlafen hier ohnehin schon zum größten Teile, und die Lampen fangen an, zu erlöschen.«

12] Mit dem war der Wirt zufrieden.

13] Der Pharisäer wollte auch bei uns bleiben; aber der Schriftgelehrte sagte zu ihm: »Komme du mit mir in deine unversehrt gebliebene Wohnung; ich werde diese Nacht bei dir Wohnung nehmen und mit dir noch so, manches besprechen!«

14] Sagte der Pharisäer: »Ganz gut, aber mit dem Besprechen wird sich in diesem Reste der Nacht nicht viel machen lassen; denn auch meine Augenlider haben angefangen, schwach zu werden!«

15] Sagte der Schriftgelehrte: »Nun, nun, das tut nichts zur Sache; gehen wir aber dennoch und nehmen die Ruhe! Vielleicht haben wir einen guten Traum zu gewärtigen, der uns mehr sagen kann, als wir uns gegenseitig; denn ich habe bei solchen gemütsaufregenden Gelegenheiten noch allzeit sehr sonderbare Träume gehabt und werde damit auch diesmal sicher nicht verschont werden.«

16] Mit dem gingen die beiden und nahmen die Nachtruhe.



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